Samstag, 14. August 2010

Wertfreiheit

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"Wertfreiheit" oder "Werturteilsfreiheit" ist in der Wissenschaftstheorie die Anforderung an eine Aussage, frei von einer positiven oder negativen Stellungnahme, einer Aufforderung oder Vorschrift zu sein.

Dies Postulat geht auf eine These zurück(1), die Max Weber im Werturteilsstreit vertreten hatte:

"Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er ''soll'', sondern nur, was er ''kann'' und – unter Umständen – was er ''will''."(2)


Das Ideal der Wertneutralität

Das Prinzip der Wertneutralität wird in den empirischen Wissenschaften häufig als Forderung aufgestellt oder zumindest implizit als ideale Norm unterstellt, indem man für die Akzeptanz oder Ablehnung einer Tatsache, Hypothese oder Theorie alleine die relevanten Fakten oder empirischen Daten, nicht hingegen die Werturteile der Wissenschaftler oder anderer Personen für ausschlaggebend hält.

Historisch geprägt wurde diese Auffassung im britischen Empirismus, insbesondere durch David Humes Verbot eines Fehlschlusses vom Sein aufs Sollen.(3) Danach ist es prinzipiell unmöglich, von beschreibenden Aussagen logisch auf Werturteile zu schließen. Wissenschaftliche Theorien sollen Fakten in der Welt beschreiben und erklären; hierfür sind auch nach Webers Auffassung Werturteile irrelevant. Für die Beantwortung der Frage „Was ist in der Welt der Fall?“ ist eine Beantwortung der Frage „Was sollte in der Welt der Fall sein?“ unerheblich.

Auch Webers Wertfreiheits-Prinzip wendet sich grundsätzlich gegen die Vermischung von Seins- und Sollensbehauptungen.(4) Denn eine solche stellt eine Art von Täuschung dar, die gerne dazu eingesetzt wird, andere zu überreden.(5)

Werturteil und Sachbehauptung voneinander sprachlich unterscheidbar?

Sprachlogische Analysen wie die von Theodor Geiger oder Hans Albert setzen wie Max Weber voraus, dass es mit sprachlichen Mitteln durchzuführen sei, Tatsachenbehauptungen und Stellungnahmen darüber, was für wünschens- oder ablehnenswert gehalten wird, strikt zu scheiden.

Um dem Ideal der Wertneutralität praktisch zu folgen, ist allerdings lediglich gefordert, dass sich Sein und Sollen in Sprache und Denken trennen lassen:

"Es muß möglich sein, Tatsachenbehauptungen und wertende Stellungnahmen ''sprachlich zu unterscheiden''. Sonst ist die Forderung prinzipiell unerfüllbar und erledigt sich damit, falls man das Prinzip 'Sollen impliziert Können' akzeptiert." (6)


Für die Gegner der Weberschen These indes erfüllt die These der sprachlichen und logischen Ununterscheidbarbarkeit von Werturteil und Sachbehauptung die Rolle eines Hilfsarguments.(7) So etwa wird von John Searle (8) die Unterscheidbarkeit bestritten oder wenigstens für irrelevant gehalten.

Die These der Wertfreiheit ist in der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts außerdem noch von anderen Positionen aus kritisiert worden. So wird unter Bezugnahme auf Erfahrungen aus der Wissenschaftsgeschichte und Wissenssoziologie häufig argumentiert, dass die Wissenschaften nicht nur ''de facto'' von Werturteilen durchzogen seien, sondern dass sich Wissenschaften gar nicht anders als wertgeladen denken lassen.(9) Die Standards wissenschaftlicher Bewertung und die wissenschaftlichen Methoden seien immer von einem kulturellen Kontext geformt, der selbst wiederum Werturteile enthalte.

Andere Argumentationen gegen die Wertfreiheitsthese sind eher sprachphilosophisch motiviert. So vertritt Hilary Putnam die These, dass viele unverzichtbare Begriffe der Wissenschaften gleichermaßen beschreibend und bewertend seien.(10)

Die Begründbarkeit von Werturteilen

Hinter Max Webers These steht letztlich seine Überzeugung, dass Werturteile wissenschaftlich nicht endgültig begründet bzw. bewiesen werden können. Empirische Wissenschaft könne keine „ethischen Wahrheiten“ verkünden bzw. wissenschaftlich begründen, was ethisch oder moralisch richtig sei.

Diese Frage, obwohl sie in Webers Konzeption mit seinem Wertfreiheitspostulat eng zusammenhängt, ist jedoch logisch gesehen und an und für sich betrachtet eine eigenständige Problematik. Sie darf nicht mit der Entscheidung darüber konfundiert werden, ob die Forderung der Wertfreiheit in der empirischen Wissenschaft eingehalten werden könne oder solle.

Anmerkungen:

(1) Herbert Keuth: ''Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit.'' Mohr Siebeck, 1989, ISBN 3-16-345452-6. S. 16, mit Hinweis auf Hans Albert und Gerard Radnitzky, die sich ebenfalls schon auf dies klassische Weber-Zitat bezogen hatten.

(2) Max Weber: ''Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis.'' In: ''Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre'', hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1988. ISBN 3-8252-1492-3. S151; sowie in: ''Schriften zur Wissenschaftslehre'', Reclam, Stuttgart 1991. ISBN 3-15-008748-1.<

(3) David Hume: ''Ein Traktat über die menschliche Natur'' (engl. ''A Treatise of Human Nature.''), Meiner, Hamburg 1989. ISBN 978-3-7873-0921-4. (Buch III, Teil I, Kap. I.).

(4) Herbert Keuth: ''Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit.'' J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) : Tübingen 1989. ISBN 3-16-345453-4. S. 18f.

(5) Herbert Keuth: ''Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit.'' J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) : Tübingen 1989. ISBN 3-16-345453-4. S. 10.

(6) Herbert Keuth: ''Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit.'' Mohr Siebeck : Tübingen 1989. ISBN 3-16-345452-6. S. 19.

(7) Herbert Keuth: ''Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit.'' J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) : Tübingen 1989. ISBN 3-16-345453-4. S. 4.

(8) "Werturteil", in: Wolfgang J. Koschnik, ''Standardwörterbuch für die Sozialwissenschaften'', Bd. 2, München London New York Paris 1993, ISBN 3-598-11080-4.

(9) so etwa von Paul Feyerabend: ''Wider den Methodenzwang.'' Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1975, ISBN 3-518-28197-6, S.84ff.

(10) Hilary Putnam]]: ''The Collapse of the Fact/Value Dichotomy and Other Essays''. Harvard University Press, Harvard 2004. ISBN 0674013808.

==Literatur==

* Max Weber: ''Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis'', in: ''Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre'', hrsg. v. [[Johannes Winckelmann]], Tübingen 1988. ISBN 3-8252-1492-3; sowie in: ''Schriften zur Wissenschaftslehre'', Reclam, Stuttgart 1991. ISBN 3-15-008748-1

* Max Weber: ''Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften'' (1917), in: ders.: ''Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre.'' Tübingen 1988 (zuerst 1922), 489–540.

* Hans Albert/Ernst Topitsch, (Hrsg.): ''Werturteilsstreit.'' Darmstadt 1971.

* Ulrich Beck: ''Objektivität und Normativität. Die Theorie-Praxis-Debatte in der modernen deutschen und amerikanischen Soziologie.'' Reinbek 1974.

*Hilary Putnam: ''The Collapse of the Fact/Value Dichotomy and Other Essays''. Harvard University Press, Harvard 2004 ISBN 0674013808.
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